Lieber Zukerman,
Deine Zeilen erreichen mich im Schatten des Staudammes von Birecek. Ich danke dir für deine Sorge um mich. Auch ich habe hier gelegentlich Momente grundlegender Angst und das ist auch der Grund, warum ich mich bisher nicht aus dem Schatten des Staudammes herausgetraut habe. Die Leute hier aber schütteln ihre Köpfe und sagen, dass dieser Schatten ein toter Schatten sei. So wie Wasser gefangen in einem verschlossenen Wasserhahn. Nur fließendes Wasser lebt, Zukerman. Steht das so nicht auch im Tanach?
Du schreibst, dass die Vision meiner Familie, die Vision meiner Familie wie sie bei einem Bruch des Staudammes ertrinkt, dich an die Buddenbrooks erinnert. Ich kann mich wiederum nicht mehr an die Buddenbrooks erinnern. Waren wir uns damals nicht einig, dass „The Importance of being Earnest“ deutlich mehr Punk hat? Also verhältnismäßig. Klar, dass dir nichts besseres einfällt, wenn du den ganzen Tag Prayer in C hörst.
Den kurdischen Arbeitern hier helfe ich beim Beton mischen für den Staudamm. Dafür bekomme ich zu essen und zu trinken. Sie nennen mich Siemens und erwarten von mir fließfähigen WU-Beton. Hätte ich so lange Arme wie du Zukerman, ich wäre schneller an der Maschine, agiler, siemensiger.
Wenn du schreibst, bei dir in Hamburg sei der Herbst nun angekommen, dann stelle dir einfach vor, dass ich hier in Birecek riesige Mengen grauer Kürbissuppe zubereite und an einem großen Schatten baue. Es ist vielleicht total sinnlos. Wie kann man mit einem Betonmischer die Welt verändern? In diesen Tagen wohl eher als mit Texten. Der Gazastreifen liegt in Schutt und Asche, wer baut ihn wieder auf? Sicherlich nicht deine Glaubensbrüder oder Julia Engelmann. One Day Baby.
Grüße deinen Vater von mir und wünsche ihm eine gute Besserung. Mein Mitgefühl hat er, auch wenn ihn das wohl nicht interessiert.
Yours,
Meter
p.s.: Ist der Schatten deiner Arme eigentlich länger als deine Arme selbst?